Florian Arnold hat den theoretischen Blick auf Gestaltungsfragen. Der Philosoph und Designtheoretiker polarisiert auch gerne mal, wenn es um Automobildesign geht. motus hat den 37-Jährigen gefragt, wie er es mit Autoformen, Concept Cars und Gestaltungsikonen hält.
Was macht die Schönheit eines Automobils aus?
Wenn Sie mich so direkt fragen, bin ich zunächst einmal versucht, mit einer Hand voll Gegenfragen zu antworten: Was genau meinen sie mit Schönheit? Meinen Sie nur Schönheit oder auch Erhabenheit, Eleganz, das Energetische oder eine andere ästhetische Kategorie? Und geht es Ihnen wirklich nur um die „Schönheit“, d.h. eher die Ästhetik, das Styling, als um ein gutes Design, was immer auch die Funktionalität miteinschließen würde? – Aber ich glaube, wir verstehen uns; ich nehme einmal an, Ihnen geht es etwa um den Moment, in dem man an einer Kreuzung steht, die Ampel gerade noch auf Rot geschaltet hat, bevor man die Straße überqueren wollte, dann sich etwas zögernd, doch schon enerviert umschaut und plötzlich, für einen Augenblick, der ganze Ärger vergessen ist, weil man ein Objekt von einnehmender Präsenz erblickt…dem man dabei zusieht, wie es einem den Vortritt nimmt und man nur noch das Nachsehen hat.
Ein kleiner Scherz. Oder vielleicht doch nicht? Was hat es mit solchen, „schönen“ Momenten auf sich? Ich glaube, die Schönheit eines Automobils hat etwas zu tun mit dem Wechsel von Ruhe und Bewegung und dem entscheidenden Moment ihres Übergangs, d.h. gerade mit solchen Augenblicken des Anfahrens (und Anhaltens). Wie der Name eines „Automobils“ schon andeutet, zeigt sich hier die „Selbstbewegung“ als ein kleines Wunder: Eine Maschine kommt wie von Zauberhand, egal ob langsam oder schnell, in Bewegung und suggeriert dabei eine lebendige Spontanität, um dessen Ausgestaltung sich nicht wenige Designfragen drehen: Denken Sie etwa an das Sounddesign der Beschleunigung, das Felgendesign im Übergang von einer statischen Strahlenkomposition zu einem seidenweichen Kreisellauf oder überhaupt die Dynamik der Linienführungen, die optisch immer beides leisten soll: unerschütterliche Gefasstheit in der faktischen Bewegung wie umgekehrt einen ruhenden Elan, lauernde Spannkraft im faktischen Stillstand. Das gilt in gewisser Hinsicht für alle Fahrzeuge in dieser Größenordnung, aber schon beim Fahrrad sehen Sie zugleich einen menschlichen Körper, der in die Pedale treten muss, manchmal sogar recht mühsam, oder bei größeren Gefährten wie LKWs ungelenke Massen, die mit Gewalt angestoßen oder abgebremst werden müssen. Autos dagegen fallen in ein Wahrnehmungsspektrum, in dem auch Anmut noch möglich ist. Vielleicht ist es die uralte Größenordnung ihrer Vorgänger, der Pferde. Automobile Schönheit demnach als gleichzeitig gezügelte und spielgebende Eigendynamik von „Pferdestärken“? Lassen wir das mal zu so stehen.
Ist Design nicht etwas fürchterlich Subjektives? Oder anders gefragt, an welchen Maßstäben kann/muss Automobildesign sich messen lassen?
Natürlich liegt die Qualität von Design im Auge des Betrachters. Aber wir haben nicht alle absolut, sondern nur relativ individuelle Augen. Das ist jetzt nicht nur wahrnehmungspsychologisch oder ergonomisch gemeint – auch die dort herrschenden Regeln bedürfen immer noch der Auslegung in der Anwendung – sondern zielt auf die Art, wie wir Designobjekte „objektiv“ beurteilen: Die physikalischen Gesetze, die bestimmten Funktionsanforderungen zugrunde liegen, sind zwar objektiv, aber die Maßstäbe schon ihrer Ausgestaltung sind intersubjektiv, d.h. wir alle teilen gewisse Ansichten darüber, was ein Auto können sollte, aber auch wie ein Auto aussehen sollte, damit wir es als Autodesign erkennen und anerkennen. Diese Maßstäbe lassen sich nicht abstrakt definieren, ohne sich in Gemeinplätzen zu verlieren, aber auch nicht konkret benennen, ohne bloße Ansichten zu äußern, deren Akzeptanz eben nicht erzwungen werden kann. Denn hier ist freilich Wandel im Spiel, gleichsam im Wechselspiel der Ansichten. Jedoch ist dieser Wandel nun auch kein bloß beliebiger, sondern zumindest einer mit gewissen Pfadabhängigkeiten. Raymond Loewy, der Großmeister des Streamlining (was auch immer man davon halten mag), hat einmal vom MAYA-Prinzip gesprochen: „Most Advanced Yet Acceptable“, und damit auf eine gültige Formel gebracht, was auch heute noch die Autogenerationen in ihrer fortschreitenden Entwicklung aneinanderbindet und bedingte Projektionen auf die Zukunft erlaubt. Concept Cars etwa sind Testballons in der dünnen Luft möglicher Zukünfte. Kaum jemand würde sie auf Anhieb kaufen wollen, aber manch einer mag erahnen, wohin die Reise in Zukunft gehen könnte – oder auch gerade nicht. Jedenfalls können Sie heran am ehesten ersehen, wie weit man mit ideellen Maßstäben für das ideale Auto der Zukunft kommt – auf die Messe, aber nicht auf die Straße. Die Kunst besteht darin, die Maßstäbe an der eigenen Zeit erst zu gewinnen und zu erproben. Design ist Zeitgeist in Gestalt; das Phänomen Auto dabei eine Zentralgestalt der Welterkundung und Selbstbekundung unseres modernen Lebens – im Guten wie im Schlechten.
Was bezweckt Tesla denn dann mit dem Cybertruck, der gefühlten Mischung aus Tarnkappenbomber und Minenräumgerät?
Gerade der Cybertruck ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn Sie jedermann ein Concept Car in die Garage stellen wollen: Sie müssen noch warten, bis die Zukunft von der Gegenwart eingeholt wird – aber ob sie es wird, bleibt durchaus fraglich. Darum glaube ich nicht, dass der Cybertruck in dieser Form in naher Zukunft auch tatsächlich produziert wird. Denn Ihr Eindruck trügt, denke ich, nicht: Er ist eine optische Bedrohung mit deutlichen Anleihen bei Militärfahrzeugen. Das ist für sich schon sprechend mit Blick auf eine wieder zunehmende Militarisierung des Alltags, als ein Zeugnis unseres Zeitgeistes. Dazu wäre einiges zu sagen, etwa auch wie eng die Technologieentwicklung im Silicon Valley nicht erst seit gestern mit der US-amerikanischen Armee verzahnt ist – ein neuer „militärisch-digitaler Komplex“ gewissermaßen.
Aber auch in einer anderen Hinsicht lässt sich hieran eine Bedrohung ausmachen: Natürlich kann niemand voraussagen, wie das Auto der Zukunft aussieht, aber genau so sieht es aus, wenn eine mögliche Zukunft, eine mögliche Sichtweise der Zukunft, nämlich die Elon Musks, die Gegenwart um jeden Preis „erobern“ will und damit noch auftrumpft. Das könnte dann übersetzt auch so klingen: „Sie, werter Mitbürger, dürfen sich durchaus bedroht fühlen, haben nun aber noch die Chance, sich im Vorverkauf auf die richtige Seite zu stellen, bevor die Invasion aus der digitalen Zukunft des Metaversum unweigerlich anrollt.“ Sie kennen diese Geste erfolgreichen Bluffs: „Fake ist ʼtil you make it.“ – Aber vielleicht sollte man sich auf dieses Spiel mit geschürten Erwartungen und aufgeschobenen Enttäuschungen gar nicht erst einlassen und den Cybertruck eher als Ausdruck eines Jähzorns verstehen, als Gestalt gewordener Jähzorn auf eine Gegenwart, die dieses Spiel einfach nicht mitspielen will.
Warum hängen viele Menschen dann aber im Gegenteil so sehr der Vergangenheit nach und verehren längst ausgelaufene Automodelle oder sogar -marken als -Design-Ikonen?
Um mich mit Blick auf das vorher Gesagte kurz zu halten: Weil nicht alles Vergangene nur vergangen ist, sondern als Gewesenes weiterhin wesentlich bleiben kann für die Gegenwart. Eine oft als Klassikerverehrung, Fetisch oder Ikonisierung verschriene „Kanonbildung“ unternimmt im Grunde nichts anderes als eben den Versuch, Bewahrenswertes bewusst zu bewahren. Wenn auch im einzelnen Fall zurecht strittig (was, warum, wie und wozu überhaupt erhalten?), scheint mir das Ganze als solches nicht streitbar. Jeder Mensch tut im privaten Alltag dasselbe. Dass wir es auch in der (Halb-)Öffentlichkeit auf dem Weg einer Institutionalisierung oder auch „Ikonisierung“ tun, verlangt lediglich nach einer gesteigerten Sensibilität für die Frage des Mustergültigen oder Vorbildhaften. (Die Ikone als orthodoxe Kunst- und Kultform meinte im Übrigen nichts anderes.) Eine Gegenwart ohne Geschichtsbewusstsein hingegen hat keine Zukunft, weil sie immer wieder das Rad neu erfindet, ohne es zu merken. Mag man die persönlichen Vorlieben mancher Oldtimer-Fans also auch nicht teilen, so halten sie doch die Erinnerung im Konkreten lebendig. Das ist kein Ballast oder gar Schaden, sondern, wenn sie einem Philosophen den Ausgriff aufs Ganze erlauben, der Treibstoff der europäischen Kultur seit der Neuzeit: kreative Absetzung und erneuerte Umsetzung von Gewesenem.
Geht Design heute nicht eher unter dem Diktat von Effizienz verloren?
Nein. Und das aus dem einfachen Grund, das heute Effizienz nicht zuletzt eine Frage des Designs ist – freilich nicht missverstanden im Sinne einer äußerlichen Aufhübschung! Man muss sich unter modernen Lebensbedingungen eines klar machen: Es gibt keine Funktion ohne Form. Funktionen, so effizient sie auch gestaltet sein mögen, mussten eben gestaltet werden. Die Frage der Effizienz gehört seit jeher zu den grundlegenden des Gestaltungsprozesses und hat heute, in Zeiten ökologischer und ökonomischer Engpässe, an Aktualität nicht eingebüßt. Unter dem Blickwinkel der Designgeschichte ist auch ein reiner Funktionalismus des Effizienzdenkens noch ein Gestaltungsstil. Der kann natürlich unbefriedigend sein, sogar hässlich, manchmal jedoch auch einfach geboten. Gestaltlos, in dem Sinne, dass Gestaltungsfragen keine Rolle spielen würden, ist er in keinem Fall. Die Frage ist dabei meist nur, ob man sich Designprofis leisten kann oder möchte. Dazu würde ich sagen: Wenn Sie Effizienz wirklich effizient gestalten wollen, brauchen Sie Designerinnen und Designer. Keiner kann so gut aus einer Not noch eine Tugend machen.
Bei welchem Modell ziehen Sie den Hut und denken: Ein durch und durch gelungenes Design?
Ein durch und durch gelungenes Design gibt es leider nicht für mich, weil die Anforderungen und Vorlieben selbst bei mir mit der Zeit einem Wandel unterliegen. Derzeit bin ich aber mit meinem weißen Audi A4, Baujahr 1995 recht glücklich, weil er für mich das unspektakulärste Auto der Welt ist, nicht einmal den Gedanken aufkommen lässt, dass ich mich mit meinem Auto identifizieren würde und treu seine Dienste verrichtet (sie wissen ja: etwa der nahezu rostimmune Unterboden der Serie). Ein bisschen liebgewonnen habe ich ihn dann aber schon, als mir an den Reaktionen meiner Studierenden klar wurde, dass ich ungewollt ein Prachtstück des derzeitigen 90s-Revivals in den Straßen eines Gründerzeitviertels vorführe. Seitdem hat er für mich eine bestimme ästhetische Qualität erlangt, die sich mit Neuwagen kaum erzeugen lässt: stilsichere Ironie….
Und bei welchen Modellen ziehen Sie den Hut tiefer ins Gesicht, um ihre Augen zu schonen?
Beim nigelnagelneuen schwarzen Audi S8 TFSI meines Nachbarn. 😉
Florian Arnold ist promovierter Philosoph und Designtheoretiker sowie Vertretungsprofessor an der Hochschule für Gestaltung Offenbach und Mitglied des Deutschen Werkbunds. Er hat den theoretischen Blick auf Gestaltungsfragen und polarisiert auch gerne einmal – etwa beim Automobildesign. Für das ZDF hat er die Sendung „Design und Strafe“ gemacht.